Adler und Henne

Einst sah eine Henne hoch über sich einen Adler. Sie bewunderte den großen mächtigen Vogel, wie scheinbar mühelos er seine Bahnen zog, und er erschien ihr wahrhaft als der Herrscher der Lüfte und als König unter allen Vögeln. Sehnsuchtsvoll schaute sie zu ihm hinauf. Und war es ihr auch nicht möglich, selbst einmal so elegant durch die Luft zu schweben, so träumte sie doch, sich mit ihm zu verbinden, so dass sie ein wenig von seinem Glanz abbekäme und sie in seinem Licht zu leuchten begänne. Ja sie entflammte in Liebe zu diesem schönen Vogel und versuchte, ihn auf sich aufmerksam zu machen.

Dem Adler waren die Bemühungen der Henne nicht entgangen, und so schwebte er langsam hinab, um sich zu ihr zu gesellen. Die Henne begann sogleich die Kraft und Stärke des Adler zu rühmen und umwarb ihn mit allerlei Reden über seine erstaunlichen Fähigkeiten und seine Schönheit. Dies schmeichelte dem Adler, und da er es mochte, von anderen bewundert zu werden, war er einer Verbindung nicht abgeneigt.

Allein die Henne machte zur Bedingung, dass sie gemeinsam ihr Leben auf dem Hühnerhof verbringen müssten, und der Adler war einverstanden. Die Hühnergesellschaft auf dem Hofe war sehr beeindruckt von der Kraft und Stärke des neuen Vogels. Staunte wie er sich mit starken Schwingen in die Lüfte hob, um von hoch oben wie ein Pfeil herab zu schießen. Allein es war der Hühnerschar unheimlich, wenn der Adler etwas tat, was gänzlich außerhalb ihrer Fähigkeiten lag, und so baten sie ihn, sich von nun an auch auf dem Boden zu bewegen. Dies sei des Hofes Sitte und ein Zeichen von Treue zu seiner Gemahlin.

Es machte dem Adler nun Schuldgefühle, wenn er Lust bekam, sich in die Lüfte zu schwingen, und so beschloss er sein weiteres Leben auf dem Boden zu verbringen. Dort machte er keine gute Figur, ja er hüpfte eher unbeholfen herum und wurde allmählich zum Gespött des ganzen Hühnerhofes. Seine Gemahlin wurde unzufrieden, denn der Glanz seiner Erscheinung schien mehr und mehr zu verblassen, anstatt auf sie überzufließen. Indem er sich das Fliegen verbat, begann er zudem fett zu werden und wurde zu einem plumpen Vogel, der von einem Bein aufs andere wankte.

Bald wusste die Henne nicht mehr, was sie so faszinierend an ihm gefunden hatte, und begann ihn heftig zu kritisieren. Er solle sich endlich richtig benehmen, und überhaupt wie er aussehe, war ihre Rede. In der Hoffnung es ihr recht zu machen, ließ er sich den Schnabel schneiden und die Federn stutzen, doch statt besser wurde es nur schlimmer. Schließlich schalt sie ihn einen Waschlappen und einen Trottel und sagte, er sei eine bedauernswerte Erscheinung und es sei eine Qual zu sehen, was aus ihm geworden wäre. So dauerte es nicht lange, bis sie ihn verließ.

Enttäuscht und gekränkt wollte er nun von dannen fliegen, doch sein Gewicht und seinen gestutzten Flügel hinderten ihn, sich in die Luft zu heben. Es dauerte lange, bis seine Flügel wieder gewachsen waren, und er brauchte noch länger, um zu seinen Kräften zurückzufinden.

Jetzt fliegt er wieder und dankt dem Tag, an dem ihn seine Henne verlassen hat.