Reiner Bastine, Heidelberg
(Forum Mediation, 2002)
Elementare Prozesse der Mediation
Mehr als eineinhalb Jahrzehnte praktischer Erfahrungen und wissenschaftlicher Auseinandersetzung mit der Mediation sowie die Tätigkeit in der Ausbildung von Mediatoren haben unseren Blick auf die Mediation wesentlich geschärft. Was wir zu Beginn dieser Entwicklung als elementare Prozesse der Mediation angesehen haben, haben wir in wesentlichen Teilen beibehalten, anderes hat sich aber auch gewandelt und anderen Auffassungen Platz gemacht (zu den neuen Entwicklungen in der Familien-mediation vgl. Haynes, Bastine, Link & Mecke, 2002). Zu den Teilen, die ihre Bedeutung beibehalten haben, gehören für mich vor allem die folgenden vier „ essentials“ der Mediation, die für mich nach wie vor grundlegende Prinzipien des Ansatzes darstellen:
Grundlegend ist die Bedeutung der Autonomie und Selbstbestimmtheit der Konfliktpartner, die für mich von Beginn an einen sehr hohen Stellenwert für die mediative Arbeit hat: wir können in die Fähigkeiten der Konfliktpartner, die zunächst unlösbar erscheinenden Probleme dennoch zu lösen, sehr viel Vertrauen legen. Autonomie und Selbstbestimmtheit sind jedoch nicht gleichzusetzen mit der oft zitierten „Freiwilligkeit“ der Mediation, die ich als eher relativ ansehe – wer setzt sich schon gerne „freiwillig“ mit seinem Konfliktpartner auseinander?
Ebenso bedeutet Selbstbestimmtheit nicht, dass Menschen im Konflikt nicht auf eine – häufig sogar stark strukturierende – externe Hilfe angewiesen sind, um ihre Autonomie tatsächlich wahrnehmen zu können. Dazu werde ich später noch mehr sagen.
Das zweite Prinzip von bleibendem Wert ist für mich die Akzeptanz und Akzentuierung der Unterschiedlichkeit der Konfliktpartner. Die Betonung der Unterschiedlichkeit ist deshalb so wichtig, weil sie zunächst in Widerspruch zu stehen scheint mit dem eigentlichen Ziel der Mediation, nämlich einen Konsens zu erreichen. Es besteht also die scheinbare Paradoxie, dass eine befriedigende Übereinkunft in der Regel nur erreicht werden kann, wenn vorher die Unterschiedlichkeit zwischen beiden Verhandlungspartnern genügend herausgearbeitet wurde. Verständlicherweise haben es Medianten oft schwer, diesen anscheinend unnötigen „Umweg“ mit uns zu gehen. Auch Mediatoren, besonders zu Beginn ihrer Ausbildung, unterschätzen manchmal diesen notwendigen Prozess und versuchen zu früh, Übereinstimmungen zu erreichen.
Drittens bleibt die Orientierung an den Bedürfnissen und Interessen der Medianten eine feste Konstante im mediativen Vorgehen. Damit sorgen wir dafür, dass grundlegende persönliche Ziele, Motive, Werte und Gefühle (wie auch Befürchtungen, Ängste, Unsicherheiten) zur Basis des Verhandelns werden, ohne die nachhaltige und befriedete Konfliktlösungen nicht denkbar sind.
Ein vierter elementarer Grundsatz ist die Bedeutung der mediatorischen Neutralität und Allparteilichkeit. Begrifflich hat sich hier allerdings schon etwas verändert, denn „Neutralität“ und „Allparteilichkeit“ könnten auch als relativ passive Haltungen – z.B. als gewähren lassen – missverstanden werden. Deshalb sprechen wir lieber von „balancierter Wertschätzung“ , um das ausgesprochen Aktive im Realisieren der mediatorischen Neutralität zu betonen. Mit balancierter Wertschätzung meinen wir, dass die Mediatorin oder der Mediator aktiv wertschätzend auf jeden der beiden Konfliktpartner zugeht, ohne dabei den jeweils anderen Partner in seinen Belangen zu vernachlässigen oder zu verletzen (Haynes et al., 2002).
Von der Mediation zum Konflikt und zurück – eine eigentlich selbstverständliche Perspektive
In anderen Punkten hat sich jedoch das Verständnis von den elementaren Prozessen der Mediation entscheidend verändert. Worin liegt nun die wichtigste Änderung? Für die Weiterentwicklung der Mediation ist es zweifellos am wichtigsten, das Vorgehen in der Mediation mit der Eigenart und der Dynamik zwischenmenschlicher Konflikte in Zusammenhang zu bringen und zu begründen. Damit muss eine neue Perspektive in unser Verständnis von Mediation gebracht werden.
Das Konzept der Mediation hat sich vor allem aus der Praxis heraus entwickelt, ohne das Verfahren
mit einem fundierten Verständnis zwischenmenschlicher Konflikte zu begründen.
Selbst das Verhandlungsmodell von Fisher und Ury (1984), das bei uns als „Harvard-Konzept“ bekannt geworden ist, zeigt nur auf, wie zwei Konfliktpartner ihre Differenzen direkt und sachbezogen miteinander verhandeln können, um zu einer einverständlichen Lösung zu gelangen. Dabei interessierten die Prozesse und Dynamiken wenig, die die miteinander im Konflikt stehenden Personen charakterisieren. Mediation ist damit über lange Jahre (und auch zum großen Teil heute noch) wie eine Kunstfertigkeit oder Technik behandelt worden, wie wir Menschen im Konflikt als neutrale Dritte helfen können.
Das mangelnde Interesse an dem konflikthaften Geschehen, das ja der eigentliche Anlass der Mediation ist und dieser vorausgeht, führt jedoch zu deutlichen Lücken in der Begründung für das mediative Vorgehen. Es zeigt sich zwar praktisch, dass Mediation eine wirksame Hilfe für Menschen ist, die einen gemein-samen Konflikt lösen wollen, jedoch bleibt weitgehend offen, warum Mediation wirkt. Fehlt eine solche theoretische Fundierung, fällt es schwer, bündige Antworten auf zentrale, letztlich unumgängliche Fragen zu geben – beispielsweise nach einer begründbaren Prognose von Erfolgen oder Misserfolgen, nach Indikationskriterien für das Verfahren oder nach den eigentlich wirksamen Elementen des mediativen Vorgehens.
Wir brauchen also ein genaueres Verständnis davon, was Menschen im Konflikt kennzeichnet, um die Hilfe, die die Konfliktpartner durch Mediation bekommen können, verbessern zu können. Mit diesem Hintergrund lassen sich dann auch noch genauere Anforderungen an das mediative Vorgehen und die Methodik der Mediation begründen.
Charakteristisch für Konfliktkonstellationen, in denen Menschen die Hilfestellung von Außenstehenden suchen, sind Merkmale wie
- eine längere Geschichte von Missverständnissen und Auseinandersetzungen,
- die Verknüpfung von sächlichen, emotionalen und Beziehungsaspekten (wie sie von den Kommunikationstheoretiker herausgearbeitet wurden),
- eine hohe gefühlsmäßige Beteiligung, die sich in ganz unterschiedlichen Formen zeigen kann – Ärger, Wut, Rachegefühle, Verdruss, wie auch Kränkung, Scham, Schuld, Angst, Resignation oder Rückzug,
- einem „Umschreiben“ der erlebten Geschichte der Beziehung: vieles aus der gemeinsamen Vergangenheit erscheint zunehmend negativer und es entwickelt sich eine negative affektive Beziehungshaltung,
- in krassen Fällen kippt die Beziehung der Partner regelrecht „um“ , d.h. ein gutes oder zumindest erträgliches Zusammenleben schlägt plötzlich um in Distanzierung, massive Ablehnung bis hin zum Hass.
Manche Partner verstricken sich bei dem Versuch, eine Lösung zu finden, in einem Muster gegenseitiger Anklagen, Abwertungen, Vorwürfen und massiven Auseinandersetzungen (nach dem Motto: „ Jeder will siegen“). Andere wiederum vermeiden jegliche offene Auseinandersetzung und gehen vielmehr in einem stillen Kampf so unentschieden und vorsichtig miteinander um, dass für alle Beteiligten zunehmend mehr jede Orientierung verloren geht und die Beziehung durch ein unerträgliches, zähes, und lähmendes Ringen um verdeckte Positionen geprägt ist („Keiner darf gewinnen, keiner verlieren“ ). Wieder andere resignieren vor dem Berg von Entscheidungen, die zu treffen sind, oder vor dem Verlust existenzieller Werte – von Sicherheit, wichtigen persönlichen Beziehungen und Lebenszielen.
In Konflikten sind Menschen anders: massive zwischenmenschliche Konflikte sind Stress-Situationen, die den drohenden Verlust der Kontrolle über essenzielle Lebensbedingungen signalisieren (Bastine, 1998). Unter dem Eindruck der Gefährdung persönlich bedeutsamer ideeller, sozialer, materieller Werte werden kognitiv-emotionale Schemata aktiviert, die massive emotionale Reaktionen hervorrufen und Selbstschutzmechanismen auslösen.
Im Konflikt verändern sich Erleben und Verhalten: Wahrnehmung, Denken und Vorstellungen engen sich ein und unterliegen Verzerrungen, starke Gefühle werden bereits bei kleinstem Anlass spürbar, wir entwickeln andere Prioritäten in unseren Zielen und Motiven und handeln „unbesonnen“.
In unmittelbaren Konflikt sind unseren üblichen Handlungs- und Bewältigungsfertigkeiten zunächst einmal stark eingeschränkt. Glasl (1998) hat dieses Phänomen auf die schöne Kernfrage zugespitzt:
„Habe ich einen Konflikt oder hat der Konflikt mich?„
Dennoch verlieren wir unser Potential, mit Konflikten produktiv und rational umzugehen, in der Regel nur partiell und begrenzt auf die spezifische Konfliktsituation mit der ganz speziellen Person: In einer anschließenden Situation mit anderen Beteiligten kann sich die gleiche Person nach einer gewissen Zeit meistens wieder „ganz normal“ verhalten.
Die Einschränkung der Problemlösefertigkeiten ist also nur relativ spezifisch für die jeweilige Konfliktsituation, während allgemeine Problemlösepotentiale erhalten bleiben.
Aus diesem Verständnis der Konfliktwirkungen auf Menschen ergeben sich einige Schlussfolgerungen für die Mediation. Die Mediatoren müssen dabei helfen, Autonomie und Ordnung wiederherzustellen. Dies geschieht in einem Prozess der „De-Konstruktion“, um einen Begriff des französischen Philosophen Jacques Derrida aufzugreifen.
De-Konstruktion ist danach eine paradoxe Bewegung zwischen Destruktion und Konstruktion, „sie zerstört Gewissheiten und Verwendungszusammenhänge, um sie in einer neuen …Form wieder
aufzubauen“. „Verständigung“ zwischen den Konfliktpartnern bedeutet damit in der Mediation nicht die direkte Suche nach einem Konsens, sondern das Bemühen, die in der Regel nicht mehr veränderbaren Unterschiede als solche bestehen zu lassen und auf dieser Basis eine neuen Umgang miteinander zu finden. Konsens entsteht dann erst auf der höheren Ebene durch die Akzeptanz der (nicht weiter überbrückbaren) Unterschiedlichkeit.
Konkret angewandt auf die Mediation bedeutet das, dass Menschen im Konflikt ganz spezifische Hilfen brauchen, um diesen Prozess der De-Konstruktion zu durchschreiten.
Aus dieser Sicht hilft Mediation durch folgende zusätzlich Bedingungen:
Struktur geben:
Die Mediation muss die Konfliktpartner durch eine starke Struktur schützen, die diese davor bewahrt, in den Gesprächen in den fatalen kognitiv-emotionalen „Konfliktmodus“ abzugleiten. Die Strukturierung durch den Mediator gibt den Konfliktpartnern einen festen, geregelten Rahmen, der ihnen hilft, das Ziel der sachbezogenen Konfliktlösung nicht aus den Augen zu verlieren und einen Umgang miteinander zu finden, durch den weitere Eskalationen vermieden werden. Das besonders Schwierige für Mediatoren ist, durch die Strukturierung nicht die freien Gestaltungsmöglichkeiten der Medianten in ihren Entscheidungen einzuengen: Ein Mediator soll also „ nur“ für den strukturierten Rahmen sorgen, um die Konfliktpartner in die Lage zu versetzen, selbstbestimmt zu handeln, nicht aber in deren Problemlösungen eingreifen. Strukturierung bedeutet also, die Medianten einerseits immer wieder auf die zu lösenden Probleme zurückzuführen und andererseits die konstruktive Kommunikation zwischen ihnen zu fördern.
Wechselseitigkeit herstellen:
Die an einem Konflikt Beteiligten nehmen ihr Problem in der Regel so wahr, dass der jeweils Andere das Problem verursacht hat. Allein schon die Benennung des Problems weist häufig auf die Verantwortung des Anderen für die bestehenden Schwierigkeiten hin. Die Mediation reagiert auf diese Ausgangslage des zwischenmenschlichen Konflikts, indem sie den anfangs bestehenden Einseitigkeiten der Problem-auffassung mit einer umfassenden „Strategie der Wechselseitigkeit“ begegnet (Haynes et al., 2002). Mediatoren werden diese Wechselseitigkeit schon bei der Definition des zu lösenden Problems herstellen, indem sie die Aufgabe, die in der Mediation zu lösen ist, neu definiert – es ist also nach einem Ergebnis zu suchen, mit dem sowohl das Problem des einen wie des anderen Partners gelöst wird. Auch wenn die unterschiedlichen Bedürfnisse und Anliegen beider Partner im gemeinsamen Gespräch geklärt werden, können diese wechselseitig die emotionalen Reaktionen und Gründe für ihre Verhaltensweisen verstehen. Schließlich wird Wechselseitigkeit auch bei der abschließenden Vereinbarung eingefordert, wenn das gefundene Ergebnis in Hinblick auf die gerechten Beiträge beider Partner überprüft wird. Das Herstellen von Wechselseitigkeit lässt sich als ein Prozess der De-Konstruktion verstehen, da die eingangs bei beiden Konfliktpartnern vorzufindende Überzeugung von der Richtigkeit und Unumstößlichkeit der eigenen Position durch die Mediation in Frage gestellt und umgewandelt wird in ein neues Verständnis, das die wechselseitige Beziehung Beider herausarbeitet. Die Botschaft der Mediation an die Medianten ist klar: eine befriedigende und befriedende Problemlösung entsteht nur, wenn beide aus dem „Entweder-oder“ zu einem „Sowohl- als auch“ kommen.